Kurzgeschichten

Der kopflose Motorradfahrer

September 14, 2020

Eine Kurzgeschichte von Andreas Schneider

Im Zentrum der nahegelegenen Stadt begegnete ich einem guten Bekannten. Vor einigen Jahren belegten wir denselben Kurs einer beruflichen Fortbildung. Da wir etwas Zeit opfern konnten, zog es uns ins nächste Café. Hier war es angenehm kühl, die Klimaanlage regulierte die Wärme, draußen war es an diesem Sommertag doch etwas zu heiß.

Als wir gemütlich aussehende lederne Sessel in Beschlag genommen, die eben bestellten Getränke auf einem kleinen Tisch vor uns auf eine Verkostung warteten, fiel ich mit der Tür ins Haus. Schon lange wollte ich diese Frage stellen, sie lag mir auf der Zunge: „Ich hörte von einem Gerücht. Vielleicht eine Art Aberglaube. Es heißt, es kommt aus dem Dorf, in dem du aufgewachsen bist. Es interessiert mich, was hinter dem Ganzen steckt.“ Nachdenklich, an seinem Kaffee nippend, sah er mich an. „Es geht um ein Gespenst“, erklärte ich, „einen Motorradfahrer ohne Kopf.“ Mein Bekannter lächelte. „Die Legende existiert wirklich. Der Biker soll des Öfteren gesehen worden sein, vorzugsweise bei schlechtem Wetter und Nebel.“ Gedankenverloren hielt er seinen Kaffeebecher zwischen beiden Händen, als wolle er sie wärmen, fing an, zu erzählen:

An einem sehr frühen Spätsommermorgen, in einer längst vergangenen Zeit, bereiteten sich einige Kraftfahrer auf ihren Arbeitstag vor. Sie angelten sich die Schlüssel ihrer Fahrzeuge aus dem dafür vorgesehenen Kasten, liefen um ihre LKW und Transporter, prüften die Reifen, die Bremsen, die Scheinwerfer, die Rückleuchten.

Die Sonne versuchte zaghaft Licht in das Dunkel der Nacht zu streuen. Die Schwärze, dessen Farbe sich mit vorrückender Zeit weiter auswusch, hatte der Helligkeit nicht mehr viel entgegenzusetzen. Trotzdem kämpften die wärmenden Sonnenstrahlen verbissen um einen schönen Tag. Aufsteigender Nebel stellte sich gegen die Wärme, die ersten bunten Blätter des Jahres lagen am Straßenrand, Spinnennetze glitzerten in der feuchten Luft.

Lachend kletterte Hannes ins Führerhaus. Sein Kollege hatte einen deftigen Witz erzählt. Er beobachtete, wie die Frohnatur grinsend in den roten IFA F9 Kombi stieg, den Wagen anließ und knatternd, eine blaue Rauchfahne hinter sich herziehend, den Hof verließ.

Auch Hannes startete seinen LKW. Schon gestern wurde das Fahrzeug mit schweren Eisenplatten beladen, die er nun auf eine zwanzig Kilometer entfernte Baustelle bringen sollte. Er wartete während der Diesel vor sich hin stampfte, das Öl im Inneren aufmunterte, etwas agiler zu werden.

Hannes war stolz auf seinen nagelneuen IFA H6. Diese LKW waren die schwersten Zugmaschinen ihrer Zeit. Der blaue Lack glänzte, sobald ein Funken Licht darauf fiel. An der Stoßstange vor der riesigen Motorhaube zeigten auf beiden Seiten nach oben ragende Stahlstangen die Breite des Lastwagens an.

Langsam rollte das Ungetüm auf die Straße. Hannes beobachtete, an dem riesigen Holzlenkrad ziehend, prüfend in den Rückspiegel schauend, wohin seine über die Ladefläche hinausragende Fracht schwenkte, bevor er das Gaspedal betätigte und gemächlich in Fahrt kam.

Es lief gut. Der Diesel grummelte vor sich hin. Dann bog er ab. Eine enge Landstraße würde ihn nun zum Ziel führen. Jedes Schlagloch hatte ein undefinierbares Scheppern zur Folge. Mit viel Kraft am übergroßen Lenkrad wurde das Ungetüm um die Kurven manövriert, an einigen Bergen ging es nur langsam den Anstieg hinauf. Hannes musste manchmal zwei Gänge herunter schalten. Schnaufend, dröhnend, schwarze Rußwolken hinter sich lassend, eroberte er die kleinen Anhöhen.

Die plötzlich auftretenden Nebelbänke waren kein gutes Omen. Er fuhr extra langsam, obwohl er möglichst schnell aus dem dichten Weiß verschwinden wollte. Sein Problem waren die Geister der Vergangenheit. Er versuchte, an schöne Dinge zu denken, zum Beispiel an den Witz seines Kollegen kurz vor der Abfahrt, aber die Nebelfetzen formten grausame Bilder: Die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges und seine Erlebnisse in dieser Zeit hatten sich in seinem Kopf festgebrannt. Der Nebel gaukelte ihm das Gesicht eines Kameraden vor – mit einem Loch in der Stirn. Sie liefen damals nebeneinander her, als das Geschoss völlig unerwartet den Kopf seines Freundes durchschlug.

Die Undurchdringlichkeit des aufsteigenden Wassers lichtete sich. Der LKW überquerte einen Hügel, stürzte sich, die lange Nase voran, eine Abfahrt hinab. Hannes fuhr nur noch Schrittgeschwindigkeit. Die Nebelbänke wurden dichter und dichter. Er konnte kaum das Ende der Motorhaube erahnen. Der Wald, der hier die Straße verschlang, trübte die Sicht noch weiter ein. Plötzlich überholte ihn ein Motorrad. Auf dem Motorrad saß ein Mensch ohne Kopf. Die Erscheinung verschwand im Nebel.

Das Grauen ließ Hannes zittern. Er bremste so stark, wie er nur konnte, brachte den LKW zum Stehen, unfähig auch nur einen Meter weiter zu fahren. Er schwitzte, zitterte am ganzen Leib. Woher, wieso …? Eine neue Geistererscheinung? Ein Motorradfahrer ohne Kopf? Er konnte sich einfach nicht beruhigen.

Er lief die Straße einige Meter hinab, konnte nichts Auffälliges entdecken. Am Rand stehend, dort wo der Wald versuchte, seine Grenze in Richtung Fahrbahn auszudehnen, starrte er in das hinter den Nebelwolken verschwindende Grün. Die Wolkenfetzen veränderten sich, wurden zu einem grinsenden Gesicht, das einem Mann gehörte, dem eine Granate den Arm vom Körper gerissen hatte, wurde zu einem Soldaten, der seine Waffe auf ihn richtete.

Das Entsetzen spiegelte sich in Hannes Gesicht, sein Herz hämmerte, als wolle es sich auf der Stelle aus seiner Brust befreien. Er rannte, so schnell er konnte, zurück zu seinem LKW. Verriegelte die Tür, nachdem er den Fahrersitz erklommen hatte und startete das Fahrzeug. Er hatte keine Wahl. Er musste hier weg.

Endlich, geschafft. Der LKW war auf der Baustelle, wurde abgeladen. Einer der Arbeiter zeigte Hannes, wie seine Ladung verrutscht war. Auf dem oberen Blech, das am weitesten herausragte, befand sich eine Blutlache. Hannes wurde aschfahl, setzte sich mitten in den Staub: „Der Motorradfahrer …“

Die inzwischen informierte Polizei und einige Helfer suchten die Strecke, auf der Hannes fuhr, ab. Nach einiger Zeit fand man den kopflosen Motorradfahrer im Wald, abseits der Straße. Etwas weiter entfernt wurde auch sein Kopf entdeckt.

Der Vorfall wurde rekonstruiert: Hannes fuhr im Nebel langsam den Berg hinab. Der Motorradfahrer sah ihn zu spät, setzte zum Überholen an, konnte aber das herausragende Blech, das ihn köpfte, nicht wahrnehmen. Das Motorrad mit seinem kopflosen Fahrer fuhr aufgrund seiner Geschwindigkeit und des Gefälles der Straße einfach weiter, während der Kopf an der nächstbesten Stelle in den Seitengraben rollte.

„Seitdem spukt dort der kopflose Motorradfahrer herum. Ob er versucht, andere Verkehrsteilnehmer vor der Gefahr plötzlich auftretender Nebelfelder zu warnen oder ob er seinen Kopf sucht, weiß niemand so genau.“

Inzwischen hatten sich mehrere Besucher des Cafés um uns versammelt, lauschten aufmerksam der Geschichte. Als mein Bekannter zu Ende erzählt hatte und verstummte, wurde es still im Raum. Eine ohrenbetäubende Stille, in der die Anwesenheit des kopflosen Motorradfahrers zu spüren war.

Bis der Bann von dem Geräusch einer auf dem Fußboden aufschlagenden und in tausend Teile zerspringenden Tasse gebrochen wurde.

Nachwort

Im Kern basiert die Geschichte auf einer modernen Legende, der Rest ist frei erfunden.

Wie bei Sagen oder Legenden üblich, wird das Geschehen von Region zu Region etwas anders erzählt. Die Kernaussage bleibt aber dieselbe.

Im Jahr 1952 verbreitete die Nachrichtenagentur Reuter eine Falschmeldung, die eine ähnliche Geschichte erzählt. Ob die Legende, die sich die Menschen erzählen, auf dieser Zeitungsmeldung basiert, lässt sich nicht nachvollziehen.

Zitat von http://www.sagen.at/texte/gegenwart/oesterreich/vorarlberg/kopflos_motorrad.html

«Bregenz, 13. Juli 1952, ag (Reuter). Nach österreichischen Zeitungsberichten ereignete sich in Lindau am Bodensee ein eigenartiger Verkehrsunfall. Ein Motorradfahrer, der hinter einem Lastwagen hergefahren war, wurde von einem Blech geköpft, das vom Lastwagen herunterfiel. Das Motorrad fuhr einige Meter weiter und stieß gegen eine Frau und ein Kind, die beide verletzt wurden. Der Lastwagenchauffeur, durch das Poltern des herabfallenden Bleches aufmerksam gemacht, blickte zurück und sah den kopflosen Motorradfahrer gegen zwei Fußgänger fahren. Vor Schreck erlitt er einen Herzschlag und war auf der Stelle tot. Der herrenlose Lastwagen fuhr gegen eine Mauer und wurde stark beschädigt.» Quelle: Walter Heim, Neuere Zeitungsfabeln, in: Schweizer Volkskunde, Korrespondenzblatt der Schweiz. Gesellschaft für Volkskunde, 44. Jg., Nr. 5, 1954, S. 68 – 75.

Heim weist in seinem Artikel nach, dass diese Pressemeldung, die Mitte Juli 1952 auch in zahlreichen schweizerischen Zeitungen erschienen ist, unwahr ist. In den „Vorarlberger Nachrichten“ (Bregenz) war kurz darauf zu lesen, dass gemäß Erkundigungen bei der Lindauer Polizei kein wahres Wort an dieser Geschichte sei.

„Die Nachrichtenagentur Reuter bedauert in Korrespondenz mit der Schweizerischen Depeschenagentur die Verbreitung dieser Falschmeldung und schreibt: „Man erinnert sich hier an ein ähnliches Unglück in Schottland. In diesem Fall betraf es einen Velofahrer, der wegen seiner Geschwindigkeit und der stark fallenden Straße (offenbar ebenfalls in geköpftem Zustande, W.H.) noch eine gewisse Strecke weiterfuhr.“ Heim S. 72

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