Buchvorstellungen

Zeitzuflucht – Georgi Gospodinov

Juni 11, 2023

Was wäre, wenn es eine Klinik für die Vergangenheit gäbe, in die wir hineingehen könnten, um Trost in unseren Erinnerungen zu finden?
In Georgi Gospodinovs Roman existiert sie: Gaustine, ein Flaneur, der durch die Zeit reist, eröffnet sie, und immer mehr Menschen suchen darin Zuflucht. Bis schließlich ganze Länder sich für die Vergangenheitsräume interessieren und in frühere Zeiten zurückkehren wollen …
Ein glänzender, hochpolitischer Roman, durchzogen von Verspieltheit und dunklem Witz.
(Klappentext)

Der erste Teil des Romanes dreht sich um das Leben als solches. Den Menschen, seinem Erinnerungsvermögen. Erlebnisse, die im Nachhinein immer besser dastehen, als sie jemals gewesen sind.
Der Mensch, im Alter gesehen, lebt, je nach gesundheitlicher Verfassung mehr oder weniger weit in der Vergangenheit.

Ununterbrochen produzieren wir Vergangenheit. Wir sind Fabriken der Vergangenheit. Lebende Menschen für Vergangenheit, was sonst. Wir essen Zeit und produzieren Vergangenheit. Selbst der Tod ist keine Lösung. Der Mensch ist gestorben, doch seine Vergangenheit ist geblieben. Wohin geht später all diese persönliche Vergangenheit?

Muss es nicht irgendwo auch Fabriken zum Recyceln von Vergangenheit geben? Kann man aus der Vergangenheit überhaupt etwas anderes machen als Vergangenheit? Kann man sie auf umgekehrtem Wege zu irgendeiner Zukunft recyclen, wenn auch aus zweiter Hand?

(Seite 133)

Es kommt zu einer genialen Idee: Wie wäre es, Krankenhäuser zu schaffen, die verschiedenste Epochen der jüngeren Zeit in ihren Zimmern, Etagen darstellen, um beispielsweise Alzheimerpatienten eine Heimat zu geben? Diese sozusagen mit ihrer Gedankenwelt zu synchronisieren?

Ist diese Zugkraft der Vergangenheit letztlich ein Versuch, zu jenem heilen Ort zu gelangen, wie weit er auch zurückliegen mag, wo die Dinge noch ganz sind, es nach Gras riecht, du aus nächster Nähe die Rose und ihr Labyrinth betrachtest. Ich sage Ort, doch es ist eine Zeit, ein Ort in der Zeit. Ein Rat von mir, besucht nie nach langer Abwesenheit den Ort, den ihr als Kinder zurückgelassen habt. Er ist ausgetauscht worden, von zeit entleert, verlassen, gespenstisch.
Dort. Ist. Nichts.

(Seite 170)

Im weiteren Verlauf des Romanes dreht sich dieser Gedanke. Immer mehr Menschen träumen von der guten alten Zeit. Die Krankenhäuser der Zeit werden zu Zufluchtsorten der Menschheit. Sogar ganze Länder rutschen in die Vergangenheit.

Nach der Diktatur der Zukunft kam die Diktatur der Vergangenheit.

(Seite 243)

Der Roman wird politisch. Trotz der fantastisch anmutenden Ideen, der Politik und der satirischen Gesellschaftskritik in diesem Buch, triftet der Lesestoff auch immer wieder ins Philosophische ab.

Ich bin so sehr nicht da. Die Welt ist überbevölkert mit meiner Abwesenheit. Das Leben ist dort, wo wir nicht sind. Wo ich auch bin …

(Seite 274)

• ISBN: 978 3 351 03889 2
• Verlag: Aufbau
• Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann

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