Vorwort
Ich sitze an einem Schreibtisch, vor mir das Notebook, hinter mir ein Doppelbett. Das Hotel, in dem ich diese Zeilen niederschreibe, befindet sich in England, in einer Stadt in der Nähe von London. Doch von dieser Reise möchte ich zu einem anderen Zeitpunkt berichten.
Mein Beruf als Elektromonteur im Maschinenanlagenbau, eingesetzt im internationalen Bereich, brachte schon so manche interessante Reise mit sich. Seit vielen Jahren treibt es mich in die verschiedensten Länder dieser Erde. Viele Erlebnisse landeten in Notizbüchern, die irgendwo in irgendwelchen Schubladen verstauben.
Vor kurzem kam ich auf die Idee, von einigen Touren zu berichten. So lässt sich mein Hobby, das Reisen, das zu einem Teil meines Berufslebens wurde, mit einem anderen Hobby, dem Schreiben verbinden. Ich hoffe, meine Leser damit auf verschiedene Ecken in der Welt aufmerksam machen zu können und mit meinen Aufzeichnungen den einen oder anderen Tipp geben zu können.
Diese Berichte haben nichts mit meiner Arbeit, die ich vor Ort auszuführen hatte, zu tun. Sie beschäftigen sich nur mit den jeweiligen Ortschaften und meinen Freizeitaktivitäten.
Bijsk – Бийск
Ich blättere in meinen Notizen, sichte Bilder und Schnappschüsse auf meinem Laptop, erinnere mich an die Reise nach Bijsk. Dort hielt ich mich etwa zehn Wochen lang auf. Der Auftrag startete in den ersten Märztagen des Jahres 2017. In Deutschland klopfte der Frühling an die Türen, bat um Einlass. In Russland sollte noch tiefer Winter herrschen.
Sicherlich werden Sie sich fragen: Wo liegt Bijsk?
Für mich stand dieselbe Frage im Raum. Auskunft gab mir mein alter Weltatlas, ein großes, dickes, schweres Buch (unvorstellbar in der heutigen Zeit). Aber auch das Internet beantwortete mir einige Fragen.
Die Stadt Bijsk liegt in der Region Altai, Südwestsibirien. Landläufig gilt die Heimat von über zweihundertzehntausend Einwohnern als Tor zum Altaigebirge. Der Ort liegt südlich von Nowosibirsk, Krasnojarsk, eingebettet zwischen den Grenzgebieten zu Kasachstan und der Mongolei.
Vor den Toren dieser Metropole treffen die Flüsse Katun und Bija aufeinander, vereinigen sich zum Ob. Dreitausendsechshundertfünfzig Kilometer fressen sich die Wassermassen des Ob durch die russische Wildnis, um sich dann dem Karasee, der zum Arktischen Ozean gehört, auszuliefern.
Die Anreise
Mein Flug startete in Dresden. Ich reiste mit einem Mietwagen an. Direkt nach der Autobahnabfahrt in Richtung Flughafen befindet sich eine Tankstelle. Das ist für die Fahrer von Mietfahrzeugen besonders wichtig. Die Mietwagenfirmen verlangen horrende Preise, sollten ein Fahrzeug nicht vollgetankt sein.
Die Zufahrt zur Abgabestelle für das Auto war schnell und unkompliziert gefunden.
Die Check–in Schalter befinden sich in der ersten Etage. Ich hatte Glück: Mein Gepäck wurde bis zum Zielflughafen durchgebucht, ich bekam auch schon die Bordkarte für den Anschlussflug. Das erspart eine Menge Ärger.
Gemütlich, ohne Hast, durchquerte ich die Sicherheitskontrollen. Danach lockte ein Café zum Verweilen ein. Ich hatte noch Zeit, also ließ ich mich dort nieder.
Eines dieser fliegenden Stahlungeheuer brachte mich nach Moskau. Etwa zweieinhalb Stunden dauerte der Lufttransport. Kaum aus dem Flugzeug, froh, sich endlich die Beine vertreten zu können, stand ich schon wieder in einer kaum enden wollenden Schlange. Vor mir befand sich die Passkontrolle.
Die Dame, die meinen Ausweis kontrollierte, machte den Eindruck, als sei für sie gleich Feierabend. In Moskau ist es schon nach zwanzig Uhr, hier gehen die Uhren eine Stunde voraus.
Nach der Kontrollstation befanden sich die Gepäckbänder. Ich war nun also in Russland eingereist. Moskau ist eines der Tore des riesigen Landes.
Mein Gepäck war schon durchgebucht worden, also brauchte ich mich nicht darum kümmern. Ich folgte der Beschilderung „Inlandsflugtransfer“, passierte die Zollkontrolle und oben im dritten Stockwerk die Sicherheitskontrolle. Danach schlenderte ich durch Geschäfte, die Souvenirs jeder Art feilboten, der Duty Free versprach zollfreien Einkauf von Genussmitteln. Es wurde Zeit. Auf zum Gate.
Im zweiten Teil der Reise war ich fünf Stunden in der Luft. Das Ziel: Barnaul. Früh am Morgen landete die Maschine. Es war noch dunkel, als ich aus dem Flughafengebäude trat. Kälte empfing mich und Schnee. Es war Anfang März, die Temperaturen lagen hier noch immer im zweistelligen Minusbereich. Es dauerte nicht lange, bis ich das Zwicken des Frostes an meinen Ohren spürte.
Auf mich wartete ein Fahrzeug. Das Auto, eine Honda – Limousine, wie wir sie auch kennen, hatte das Lenkrad auf der falschen Seite. Hier herrscht kein Linksverkehr, die Karossen werden genau wie zu Hause, auf der rechten Seite bewegt. Im Laufe meines Aufenthaltes sollte mir auffallen, dass alle japanischen Fahrzeuge, davon gibt es jede Menge, linksgelenkt sind. Wahrscheinlich werden diese aus Kostengründen direkt vom japanischen Markt aufgekauft.
Jetzt begann die dritte Etappe: Einhundertsechzig Kilometer mit dem Auto durch Russland.
Der Fahrer sah genauso müde aus, wie ich mich fühlte. Zu Hause war es ein Uhr dreißig Nachts, hier zeigte die Uhr Früh sechs Uhr dreißig an.
Es gibt eine gut ausgebaute Verbindungsstraße zwischen Barnaul und Bijsk. Wir kamen relativ zügig voran, obwohl Schnee lag, die Straßenränder teilweise turmhoch von den weißen Massen verdeckt waren. Im Licht der aufgehenden Sonne zeichneten sich die ersten Häuser von Bijsk ab. Das Fahrzeug trug mich ins Zentrum der Stadt, hielt vor dem Hotel, dem Ausgangsort meiner Aktivitäten in den folgenden Wochen.
Das Hotel
Untergebracht war ich im Hotel Central – центральная гостиница (offizielle Webseite: centralhotel-biysk.ru).
Eine breite Treppe, eingerahmt von chromglänzenden Handläufen, belegt mit einem Teppich, der zwar schmutzig, aber erkennbar rot eingefärbt ist, soll den Besucher elegant ins Innere des Hotels geleiten. Hinter der doppelten Eingangspforte findet sich ein großer Raum mit polierten Wänden, einem riesigen Bildschirm auf der einen Seite, die Rezeption auf der anderen Seite.
Während ich eincheckte, betrachtete ich die Wand hinter den Damen. Die Rezeption soll Weltoffenheit ausstrahlen, in dem man dort Uhren angebracht hat, die verschiedene Zeitzonen anzeigen. Dafür sprach keine der drei vor mir sitzenden Frauen Englisch.
Ich wollte nur noch schlafen. Die Zeitverschiebung quälte mich. Am folgenden Tag sollte ich meine Arbeit aufnehmen. Als ich endlich im Zimmer ankam, dauerte es nicht lange und ich schlief ein.
Die Innenausstattung der Zimmer ist völlig in Ordnung. Man kann hier auch längere Zeit leben. Die Flure sind mit dicken Teppichen belegt, man hört also niemanden an seinem Zimmer vorbeilaufen.
Es gibt hinter dem Lobbybereich ein prunkvolles Restaurant. Spiegelnde Marmorähnliche Wände, ein entsprechend in Szene gesetztes Bild von Marilyn Monroe. Schwere Kristallleuchter an der Decke runden den luxusähnlichen Eindruck ab. Ein Nebenausgang führt in einen kleinen Garten, der zum Verweilen in der Sommerzeit einlädt. Ähnlich gestaltet ist die Bar.
Trotzdem wirkt das Hotel und dessen zahlreiche Details auf mich, als wäre ihm der Ruhm und der Glanz mit dem Untergang der Sowjetunion abhandengekommen. Dennoch lassen sich die alten Zeiten noch immer erahnen.
Um das kostenlose W-Lan nutzen zu können, benötigt man eine russische SIM-Card. Man meldet sich auf der Startpage mit seiner Telefonnummer an, danach erhält man umgehend einen Zahlencode per SMS. Diesen gibt man auf der Startwebseite ein und schon steht das Internet zur Verfügung. Eine russische SIM-Card zu beschaffen, ist relativ einfach. Im Umfeld des Hotels tummeln sich einige kleine Geschäfte von Mobilfunkanbietern (zum Beispiel MegaFon – МегаФон).
Dort kann für wenige Rubel eine solche SIM-Card gekauft werden.
Das im Zimmerpreis enthaltene Frühstück ist essbar, wenn auch etwas befremdlich. Man findet Kaffee (löslich), Brot, Eier, Nudeln, gebackenes Hühnerfleisch und ähnliches. Da ich ein süßes Frühstück bevorzuge, beschloss ich, Selbstversorger zu werden. Im Zimmer gibt es einen Kühlschrank. Abgekochtes, heißes Wasser für den Kaffee kann man auf dem Flur der jeweiligen Etage bekommen. So stand dieser Idee nichts im Weg.
Einkaufsmöglichkeiten – Lebensmittel
In Hotelnähe gibt es einige kleine Lebensmittelgeschäfte. Zu erwähnen wäre da eine Bäckerei, die nebenbei, einem Tante-Emma-Laden ähnlich, auch andere Lebensmittel feilbot.
So wie überall in Russland finden sich auch in Bijsk die großen Supermarktketten. Diese sind vergleichbar mit Kaufland oder Real.
Im russischen Raum hält man Ausschau nach Maria Ra (Мария Ра), Auchan oder Lenta (Лента). In solchen Einkaufszentren werden neben Lebensmitteln, dessen Angebot vielfältiger ist als in den kleineren Geschäften, auch Textilien, Büroartikel oder Elektronikartikel angeboten.
Ich zog Lenta vor. Dort fand ich Erzeugnisse, die von zu Hause bekannt sind. Das beste Beispiel: Schwartau – Marmelade für das Frühstück.
Restaurants – Café – Bar
Es gibt so einige Restaurants in und um das Hotel. Das Restaurant im Hotel war mir einfach zu teuer und zu leblos. Ich suchte etwas Anderes.
In der Altstadt gibt es ein Restaurant, das gleichzeitig eine Attraktion ist:
Kalina Krasnaja (Калина Красная).
(offizielle Webseite: www.traktirkalina.ru)
Einmal muss man mindestens da gewesen sein, mit diesen Worten empfahl mir ein Einheimischer das Lokal. Nach meinem Besuch stimmte ich dem vollkommen zu.
Ganz nebenbei erzählt die Taverne (russisch: traktir) einiges aus der Geschichte der Stadt Bijsk.
Das Kalina Krasnaja ist bekannt für seine originelle Innenausstattung. Es war, als fiele ich direkt vom lärmenden Stadtalltag in eines der zahlreichen russischen Märchen. Die Kombination aus dunklem Holz, kunstvoll geschnitzten Fenstereinfassungen, Ornamente und Rehköpfe an den Wänden, zahlreiche Tongefäße, Sekretäre, Schreibpulte, Vitrinen im selben hölzernen Stil, der Fußboden aus kaltem Stein, an der Decke Wagenräder als Leuchter ließ mich in eine längst vergangene Zeit versetzen.
Die Speisekarte verweist auf die außergewöhnliche Geschichte der Stadt und des Hauses. Man erfährt, dass Bijsk 1709 von Peter I. als Festung gegründet wurde. Mittlerweile wandelte sich die Festung hin zu einer Wissenschaftsstadt (Titelverleihung: 2005).
Das Herrenhaus, in dem sich heute die Taverne befindet, war ursprünglich ein Kaufmannswohnhaus. Der historische Grundriss ist bis heute erhalten.
Also war mein Gefühl, in ein Märchen zu stolpern, gar nicht so falsch, dachte ich bei mir, nachdem ich die Zeilen mit Mühe und Hilfe des Google Übersetzers auf meinem Telefon entziffert hatte.
Die Speisekarte ist rustikal gehalten, reicht von Fisch, Meeresfrüchten bis hin zu Kalbs- und Schweinefleisch.
Es gibt noch viele weitere Lokalitäten, die ich nicht alle aufzählen möchte, in denen ich aber auch nie gewesen bin.
Meistens ging ich in die Shokolatte.
Shokolatte (Шоколатте)
In den gemütlichen Räumlichkeiten findet sich eine Mischung aus Restaurant, Café und Bar.
Das Lokal befindet sich in unmittelbarer Umgebung des Hotels, in dem ich untergebracht war. Ich konnte immer hierherkommen, egal ob ich etwas essen wollte oder mir der Sinn danach stand, einfach einen Kaffee zu trinken. Genau dieser Umstand machte die Shokolatte für mich zum Favoriten.
Die Küche bietet so manche Pizzen, einige Nudelkreationen, verschiedenen Kartoffelpfannen, kunstvolle Sandwiches und Sushi.
Steht der Sinn nach etwas Süßem zum Kaffee, gibt es eine Auswahl an Kuchen und Muffins.
Der Barliebhaber nimmt Platz an dem modern gestalteten Tresen. Ihn erwartet eine bunte Auswahl an Cocktails oder seine bevorzugte Spirituose.
Durch die Stadt
Schon kurz nach meiner Ankunft in Bijsk zeigten sich die ersten Vorboten des nahenden Frühlings. Es war immer noch sehr kalt.
Die Energie der Sonne steigerte sich langsam. Jene Stellen, die zuerst von den wärmenden Strahlen getroffen, kämpften verbissen um Sieg oder Niederlage. Der Schnee musste sich zurückziehen, er verlor mehr und mehr seines Territoriums.
Überall tropfte es, bildeten sich kleine Rinnsale, die manchmal nach wenigen Zentimetern erstarrten und unglaubliche Eiszapfen bildeten.
Es sollten noch einige Tage ins Land gehen, bevor unter den schmelzenden Eismassen Details der Stadt auftauchten.
In einem kleinen Park gegenüber dem Hotel erhob sich aus den schrumpfenden Hinterlassenschaften des Winters ein kunstvoll gestalteter Springbrunnen.
Kathedrale der Himmelfahrt der Jungfrau Maria
Während einer meiner Erkundungstouren durch die Stadt beschloss ich die Kathedrale der Himmelfahrt der Jungfrau Maria zu besuchen.
Majestätisch erhebt sich der weiß leuchtende Bau mit seinen blauen Zwiebeldächern und den sich darauf befindlichen goldenen Kreuzen in einem Viertel voller geduckter Häuser.
Den Eingang des Geländes ziert ein hölzerner Torbogen, auf dem Weinranken eingearbeitet sind. Die Farben des Portals wurden ganz der Kathedrale angepasst. Der weiße Hintergrund, grüne Blätter der Weinranken, die Reben selbst sind goldfarben. Auch hier finden sich kleine Zwiebeldächer in blau.
Man darf dieses wunderschöne Gebäude auch von innen betrachten. Es ist jedoch ratsam, sich an gewisse Regeln zu halten: Keine Fotos! Es gibt auch so etwas wie eine Kleiderordnung. Männer sollten den heiligen Ort ohne Kopfbedeckung betreten. Frauen haben mit Schleier (Tuch) und idealerweise mit einem langen Rock bekleidet zutritt.
Beeindruckend fand ich die reichen Verzierungen an den Wänden, in den Bögen, die auf den tragenden Säulen die Last des Hauses balancieren. Eine massiv wirkende, goldene Ikonenwand, unzählige Portraits heiliger Figuren hinterließen in mir eine bezaubernde Faszination.
Lenin
Auch in Bijsk trifft man auf Wladimir Iljitsch Lenin. Vor dem Gerichtsgebäude weilt die Skulptur des Revolutionärs auf einem Sockel, trotzt Wind und Wetter, Kälte und Schnee.
Angeblich ist diese Skulptur die Einzige in Russland (im Raum der ehemaligen Sowjetunion soll es drei geben), die Lenin mit einer „shanka – ushanka“ – einer traditionellen sibirischen Winterfellmütze mit Ohrenklappen zeigt. Diese Aussage lässt sich jedoch nicht belegen. Vielleicht ist es ein Mythos.
Der Bahnhof
Inzwischen hat der Frühling Einzug gehalten. Die Temperaturen lagen zwar knapp unter zehn Grad Celsius, doch glücklicherweise nicht mehr um den Gefrierpunkt. Man konnte sich also länger im Freien aufhalten, ohne zu frieren.
An jenem Sonntag beschloss ich zum Bahnhof zu wandern. Die Sonne wärmte und zauberte der Stadt ein freundliches Lächeln ins Gesicht.
An einer Kreuzung beobachtete ich, wie sich ein Auto langsam über eine Rampe, die über eine Straßenbahnschiene führte, quälte. Wahrscheinlich war der Wagen relativ neu, ich sah hier schon einige Fahrzeuge, deren Karossen aufsetzten und sich hässliche Schrammen holten.
Im selben Moment, als dieses Auto über die Schienen kletterte, kam eine Straßenbahn angerumpelt. Straßenbahn ist schon fast zu viel gesagt, eher ein Stahlungeheuer in Kastenbauweise. Das Ding sah aus, als wäre es aus einem Stück gefeilt worden.
Hinter der Frontscheibe saß eine Frau in Uniform, das Gesicht zur Faust geballt. Im letzten Moment entschied sie sich zu halten und betätigte die Klingel. Gleich steigt sie aus und schiebt das Fahrzeug eigenhändig zur Seite, dachte ich bei mir.
Einige Sekunden später löste sich der Knoten. Das Auto war auf der anderen Seite der Schienen angekommen, Die Stahlplattenbahn fuhr wieder an.
Mein Weg führte eine breite Straße entlang. Eine Prachtallee, großzügige Fahrspuren, Fußwege, Bäume auf beiden Seiten. Hinter den Gewächsen, Wohngebiete. Plötzlich tat sich eine Gasse auf. Der Gegensatz zu der eben beschriebenen Straße, auf der ich immer noch stand, einfach unglaublich: Dreck, Schutt, Asche, Holzhäuser und Zäune kurz vor dem Zusammenbruch. Weiter hinten lugten jedoch wieder modernere Häuser hervor.
Kurze Zeit später schlenderte ich an einem Krankenhaus vorbei, dann mündete die Allee in einen großen Platz. Der Bahnhofsvorplatz, gesäumt von modernen Bauten und einem glasverspiegelten Warenhaus. Am unteren Ende jenes Platzes: Der Bahnhof. Das Gebäude passt eigentlich gar nicht in sein Umfeld. Es kommt mir vor, als habe ein Kind mit Bauklötzen gespielt, seiner Fantasie freien Lauf gelassen.
Ich betrat das bunte Spielhaus. Hinter dem Eingang: Ein Flur, der auf den Bahnsteig führte, links und rechts Wartebereich. Alles war leer. Meine Schritte bildeten ein Echo. Hinter der Scheibe des Fahrkartenschalters langweilte sich eine junge Frau. Sie sah auf, lächelte mich an, dann vertiefte sie sich in einen Roman.
Ich fand eine Tafel, die einiges zur Geschichte der Eisenbahnstrecke erzählte.
Der Bahnhof Bijsk ist die Endstelle der Altai-Eisenbahn. Diese ist wiederum eine Nebenstrecke der Turkestan-Sibirischen-Eisenbahn (TurkSib), die 1931 fertig gestellt wurde.
Ich trat hinaus auf den Bahnsteig, entdeckte eine etwas im
Abseits ausgestellte Dampflock. Ich betrachtete dieses stählerne Kunstwerk der Technik genauer. Ich glaube, diese Lock war eine der Ersten, die auf dieser Strecke eingesetzt war.
Mahnmal gefallener Soldaten
Folgt man der Ulitza Sovetskaja in Richtung Altstadt, trifft man unweigerlich auf das Mahnmal für die gefallenen Soldaten während des großen vaterländischen Krieges (Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941 – 1945).
Es gibt nicht viel dazu zu sagen. Die Bilder sind aussagekräftig genug.
Mahnmal gefallener Soldaten 1 Mahnmal gefallener Soldaten 2
Die Bija
Im östlichen Teil von Bijsk gibt es eine Brücke, die über den Fluß Bija führt. Dort stand ich nun, sah hinab.
Ich war noch nicht einmal zur Hälfte über das Viadukt gelaufen. Das Bauwerk ist unglaublich lang. Neben mir erstrecken sich breite Fahrspuren, eine in jede Richtung, in der Mitte Straßenbahnschienen. Es donnern Lastwagen an mir vorbei, verfolgt von PKWs und Bussen. Auf der anderen Seite der Überführung ist die Stadt noch nicht zu Ende. Schaut man auf eine Landkarte, könnte man annehmen, ein Maler hätte auf der anderen Seite des Flusses einen Farbklecks hinterlassen.
Unter mir erstreckte sich ein Park, der bis zum Stadtstrand, der mir nun zum ersten Mal auffiel, reichte.
Die Aussicht machte mich neugierig. Hinter mir rumpelte eine Straßenbahn, in mir tauchte kurzzeitig die Frage auf, ob die Brücke schwankt.
Ich beschloss zurück zu laufen, um mir das von oben Gesehene näher zu betrachten.
Park des Sieges (парк победы)
Gegenüber dem Eingang zum Park liegt ein Café. Das Haus sticht aus dem grauen Einheitsbrei der anderen Bauten heraus, wirkt wie eine Lichtung im dichten Wald.
Ich schlendere in den Park. Es gibt viele Bäume, dann stieß ich auf eine mit Betonplatten belegte Allee. Es dauerte nicht lange, als ich plötzlich vor einem Panzer stand. Die hier ausgestellten Exemplare wurden auf niedrigen Sockeln geparkt.
Erst als ich ein Marmormonument mit einer eisernen Gedenktafel entdeckte, wurde mir klar, dass ich mich im Park des Sieges befand.
1995 wurde der Park anlässlich des 50. Jahrestages des Sieges über den großen vaterländischen Krieg neu eröffnet.
Am Ende des Parks befindet sich ein Damm. Dahinter der Fluss Bija.
Der Stadtstrand
Eine breite Treppe führte von dem Damm hinab an den Strand. Ich glaube, in der Sommerzeit ist es hier bestimmt schön.
Im Moment benötigte ich viel Fantasie, um mir reges Treiben am Strand auszumalen. Es war einfach noch zu kalt und Menschenleer.
Ausflug zum Ursprung des Ob
Da ich nun schon einmal in dieser Stadt war, setzte ich mir in den Kopf, dorthin zu fahren, wo der mächtige Ob seinen Ursprung hat.
Der Fluss tritt dort nicht aus einer Quelle zutage, von Ursprung zu sprechen ist deshalb etwas weit hergeholt. An dem Punkt, den ich meine, vereinen sich zwei Gewässer. Von da ausgehend, nennt man den gesamten Strom Ob. Er ist der Hauptstrom Westsibiriens, wird als bedeutende Transportader und, in der Nähe von Nowosibirsk an einem Staudamm, zur Stromgewinnung genutzt.
Der eine Quellfluss, der längere von Beiden, ist der Katun. Sein Ursprung liegt am Belucha, dem höchsten Gipfel des Altai Gebirges.
Der zweite, kleinere Quellfluss ist die Bija. Das Gewässer kommt vom Telezker See im Altai Gebirge, plätschert unter anderem durch Bijsk bis hin zum Treffpunkt mit dem Katun.
Mit dem Wissen ausgestattet (das Internet half mir dabei), bestieg ich ein Taxi. Der Weg in Richtung Westen durch die Stadt zog sich. Irgendwann befuhren wir eine Schnellstraße. Auf der linken Seite begleiteten uns dicke Rohre einer Fernwärmetrasse, dahinter glaubte ich zwischen Büschen und Sträuchern Wirtschaftsgebiete oder Betriebe auszumachen.
Dann war es soweit. Das Auto bog in eine schmale Straße ab. Werbetafeln irgendwelcher Gasthäuser drängten sich auf. Plötzlich führte der geteerte Weg in den Wald. An einem kleinen Weg hielt das Fahrzeug neben einem anderen, deren Insassen den selben Ort sehen wollten wie ich.
Nach einigen Metern über Tannennadelbelegten Waldboden öffnete sich eine Lichtung, die den Blick auf die Flüsse freigab.
Hier herrschte nur die Natur. Die einzigen Geräusche kamen von Vögeln in den Baumwipfeln und vom Plätschern der Wassermassen. Ruhig lagen die Gewässer vor mir. Still und heimlich vermählten sich die nassen Elemente. Links von mir erkannte ich den Zulauf der Bija. Daneben, etwas weiter entfernt, war das Ende des Katun auszumachen. Vor mir floss der Strom als Ob davon. Ich erinnerte mich, irgendwo habe ich gelesen, dass der Fluss von dieser Stelle aus einen Weg von dreitausendsechshundertfünfzig Kilometer bis zur Karasee, die zum Arktischen Ozean gehört, zurücklegt.
Einfach beeindruckend.
Ich blieb noch einige Zeit an diesem schönen, beruhigenden Ort.
Worüber ich mich wunderte, war die Tatsache, dass es dort nicht einmal eine Bank gab. Die Aussicht war einfach herrlich. Nur hat wohl noch niemand verstanden, das Potential touristisch zu nutzen.
Die Altstadt von Bijsk
Bei schönem Wetter, die Sonne wärmte mir das Gesicht, schlenderte ich Richtung Osten.
Gegenüber dem Hotel, zwischen der Ulitza Lenina und ihrer Parallelstraße Ulitza Krasnoarmeyskaya, an der Stelle, wo der Springbrunnen mit den wärmenden Sonnenstrahlen aus den Schneemassen emporstieg, gibt es einen Park, der sich auf die gesamte Länge der beiden Straßen erstreckt.
Hier spazierte ich nun entlang bis zum Kommunarskiy Prospekt. Der schnellste und einfachste Weg, auf die andere Seite des Prospekts zu gelangen, stellte sich als eine Unterführung heraus. Also hieß es, auf der einen Seite hinab stolpern, die Stufen waren ausgewaschen und stellenweise gebrochen, um auf der anderen Seite wiederaufzutauchen.
Jetzt lenkte ich meine Schritte in Richtung Ulitza Sovetskaya.
Dramatisches Theater Bijsk
Dann stand ich vor dem bekannten und berühmten Theater. Das um 1912 erbaute Haus ist eine Touristenattraktion und weit über den Altai – Bezirk hinaus bekannt.
Das beeindruckende Gebäude präsentiert sich mit weißen, eckigen Säulen, verziert mit kunstvollen Stuckelementen und hohen Bogenfenstern.
Die Bühne wurde von vielen berühmten Opern-, Zirkus- und Theatergruppen genutzt. Während des zweiten Weltkrieges logierte das Moskauer Theater „Lensowet“ in diesem Haus.
Das Dramatische Theater Bijsk soll das einzige Schauspielhaus sein, dass fast alle dramatischen Werke von Wassili Schukschin (1929 – 1974; russischer Schriftsteller; Vertreter der sogenannten „Sechziger“) als Stücke gespielt hat.
Der Stadtpark
Im Stadtpark gibt es zwei Dinge zu bestaunen. Das Eine sind die zwei Kanonen, die aus der Zeit stammen, als Bijsk im Kampf um die Eroberung Sibiriens eine Rolle spielte (um 1750)
historische Kanonen im Stadtpark Statue Zar Peter des I.
In der Mitte des Parks befindet sich eine Statue von Zar Peter I. Er gründete 1709 die Festung Bijsk.
Die Geste der Statue, der Herrscher auf seinem Pferd sitzend, zeugt vom eisernen Willen, die Gegend zu beschützen. Es ist, als spricht der Zar: In diesem Territorium errichten wir eine Festung. Der Standort ist ideal. Es gibt frisches Wasser aus dem Fluss, der Boden ist fruchtbar.
Der strategische Punkt war wichtig um die südliche Grenze Russlands vor den Angriffen der Dsungaren (westmongolische Volksstämme) zu schützen.
Altstadt – Ansichten
Viele schöne Bauten, einzigartig auf ihre Weise, ziehen sich entlang den Straßen. So gibt es Ziegelbauten zu entdecken, die keineswegs einfach fantasielos in quadratischer Form auf den Erdboden genagelt wurden, wie man sich das vom bloßen Wort Ziegel so vorstellt. Vielmehr wurden tragende Säulen in eckiger Bauweise, zierende Fensterbögen, kunstvolle Zu- und Anbauten herausgearbeitet.
Wer durch die Straßen der Altstadt wandelt, wird auch auf verwahrloste Gebäude treffen.
Die Frage, ob man diese historischen Bauten, die einmal Prachtexemplare gewesen sein mussten, absichtlich dem Verfall überlassen hat, oder einfach kein Geld für Restaurierungsarbeiten zur Verfügung stand, drängte sich regelrecht auf.
Vor einigen Jahren brannte das alte Bankgebäude aus. Das Dach soll ursprünglich ähnliche Kuppeln wie die Kathedrale getragen haben.
Betrachtet man das Gebäude, taucht mit etwas Fantasie der alte Glanz des Prachtbaus vor dem inneren Auge auf.
Auch hier stellt sich die Frage, warum das ehemalige Geldhaus nicht wiederaufgebaut wurde.
Der letzte Ausflug
Am nördlichen Stadtrand erhebt sich ein Hügel. Darauf schwebt ein Funkturm, der abenteuerlich anzusehen ist. Komplett aus Stahl, ähnlich einem Hochspannungsmast, nur erschien mir das Ding größer, gespickt mit jeder Art Antenne.
Irgendwann im Laufe meines Aufenthaltes beschloss ich, diesen Hügel hinaufzusteigen, um Bijsk von oben zu betrachten.
Es war der letzte Tag, an dem mir die Zeit blieb, mich diesem Unternehmen zu widmen. Ich lief also stadtauswärts, immer dem Fußweg nach. Als ich die lange nach oben führende Straße erklommen hatte, hielt ich mich links. Eine eng werdende Straße führte zwischen Bäumen und niedrigen Holzhäusern hindurch, an deren Ende, ich sah es schon von weitem, die Füße dieser Stahlkonstuktion den Boden belasteten.
Plötzlich öffnete sich ein staubiger Platz, gleich hinter dem kleinen Wald. Hier parkten einige Fernlastwagen. Einige Fahrer saßen in ihren Kabinen, einen sah ich auf ein Haus zu laufen. Erst jetzt begriff ich, dass es sich hier um einen kleinen Rasthof handelte.
Zu meinem Erstaunen befand sich zwischen den schweren russischen Fahrzeugen auch ein IFA – LKW, hergestellt in der DDR. Neugierig betrachtete ich den W50. Ich kannte diese Lastautos nur vom alltäglichen Verkehr auf den damaligen Straßen meiner Heimat, mit verschiedensten Aufbauten versehen. Dieses Exemplar hatte eine Fernfahrerkabine, also mit Schlafgelegenheit für den Fahrer. So etwas hatte man früher selten gesehen.
Ich lief etwas weiter an den Rand der Plattform, die dieser Hügel beschrieb, sah hinab auf die Stadt.
Es war nicht so viel zu sehen, wie ich erhoffte. Im Vordergrund der Stadtrand, kleine, geduckte Häuser, teilweise aus Holz. Dahinter die höheren Betonwohnhäuser des Zentrums. Trotzdem, fand ich, hatte sich der Ausflug gelohnt, der Blick von hier oben ist eine einzigartige Perspektive auf Bijsk.
Die Abreise
Jetzt war es soweit. Es sollte wieder nach Hause gehen.
Am Nachmittag fuhr mich der Honda, der mich auch vom Flughafen hergebracht hatte, nach Barnaul.
Dort übernachtete ich im Flughafenhotel. Das Flugzeug startete am frühen Morgen darauf und brachte mich über Moskau zurück nach Deutschland.
Es war eine interessante Reise. Sicherlich gibt es in Bijsk noch mehr zu sehen und zu bestaunen.
Der Aufenthalt gab einen Einblick in eine fremde Stadt, eine fremde Kultur, die so schnell nicht vergessen sein wird.